Reiselust: Warum Menschen reisen
Der Mensch als reisendes Wesen – einerseits gut dokumentiert, für meinen Geschmack doch viel zu wenig erforscht. Was bewegt uns? Warum reisen wir? Und welche Eigenschaften liegen dem Reisen zugrunde? Ich gehe diesen Fragen nach und versuche, anhand von Literatur und wissenschaftlichen Quellen eine Antwort darauf zu finden, warum Menschen reisen. Reiselust im psychologischen Fokus, sozusagen.
„Das Reisen gehört zu jenen grundlegenden Tätigkeiten, von denen alle reden, die aber niemand so recht erklären kann. Der Versuch, sie zu umschreiben, verliert sich in der Vielfalt“ Norbert Lüdke [1]
Seit wann reisen Menschen?
Die Spezies Mensch hat es vollbracht, innerhalb von 50.000 Jahren den gesamten Erdball zu bevölkern. In dieser Geschwindigkeit hat das noch kein Tier vor oder parallel zu uns geschafft. Möglich ist eine solch rasante Ausbreitung nur, weil der Homo Sapiens einige wesentliche Eigenschaften dafür mitbringt.
Urzeit und Antike
Wir wissen, dass unsere Vorfahren sich von Afrika aus auf der ganzen Welt verbreitet haben. Obwohl die Menschheit sesshaft wurde, hat sie ihr Nomadentum niemals ganz aufgegeben. Kaum waren die eigenen Territorien erschlossen, wollte man auch andere sehen und besitzen oder mit anderen Völkern Handel treiben. Und sobald die Schrift erfunden wurde, wurden auch schon Zeugnisse von Reisen der Nachwelt hinterlassen [2].
Auch im antiken Rom gehörte es für die jungen, wohlhabenden Römer schon zum guten Ton, eine Reise – etwa nach Griechenland – zu unternehmen. Entdecker, Schiffsbauer und Seefahrer genossen in der Gesellschaft eine sehr hohe Stellung. Oftmals wurden sie von Regierungen beauftragt, neue Länder und Erdteile zu erkunden. Sie waren dadurch nicht nur finanziell privilegiert, sondern auch sozial beliebt [3].
Reisen in der Neuzeit
Im 18. und 19. Jahrhundert haben vor allem Naturforscher dazu beigetragen, dass das Ferne, das Exotische bei uns bekannt wurde, etwa mit Berichten aus der Südsee, den Galapagos-Inseln oder der Karibik. Bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts blieben diese Destinationen für die breite europäische Masse allerdings genau das: exotisch. Und faktisch unerreichbar[4]. Erst die Erfindung der Dampfmaschine machte das Reisen für die breite (zumindest bürgerlich privilegierte) Bevölkerung möglich. Nicht umsonst fand die erste organisierte Reise eines Anbieters (es war der Prediger Thomas Cook) 1841 statt, also genau zu der Zeit, als die Dampflok Fahrt aufnahm [5].
Während zunächst nur schriftliche Ausführungen von Reisen mitgebracht wurden, gesellten sich im Laufe der Jahrtausende Bilder, Karten, Mitbringsel und schließlich Fotos dazu. So konnten die anderen Leute zuhause an den Erfahrungen der Reisenden teilhaben, Erkenntnisse wurden vermittelt und die Lust am Selberentdecken angefacht. Durch diese vielen Erkundungen, Entdeckungen und Dokumentationen gibt es heute zwar kaum mehr weiße Flecken in den Atlanten, sehr wohl aber weiße Flecken auf der eigenen Landkarte [2]. Und die wollen wir für uns genau so erobern, wie einst die großen Seefahrer das für ihr Land getan haben.
Voraussetzungen der Reiselust
Man kennt es: manche Menschen sind rastlos und wollen ständig die Welt entdecken, andere verbringen ihr Leben lieber in den eigenen vier Wänden. Die einen werden unglücklich, wenn sie ständig zuhause sind, die anderen, wenn sie dauernd aus dem Koffer leben müssen. Zwischen diesen Polen liegt ein Kontinuum. Jemand, der sich in der Mitte verortet, reist und entdeckt gerne, jedoch nicht unentwegt.
Als Psychologin stellt sich mir natürlich die Frage: welche Eigenschaften bedingen dieses Kontinuum mit? Welche biologischen und psychologischen Voraussetzungen braucht es für Reiselust?
Körperliche Voraussetzungen
Die Evolution hat uns eine Menge Voraussetzungen dafür mitgegeben, dass wir als Menschen reisen können – damals wie heute. Der Evolutionsgenetiker Jim Noonan formuliert das folgendermaßen:
„Wir verfügen über eine große Mobilität, eine außerordentliche Fingerfertigkeit und – das Allerwichtigste – ein Gehirn, das abstrakt denken kann“
Es sind also allen voran unsere Beine, die weite Stecken gehen können, unsere Finger, die Hilfsmittel erschaffen können und unser Gehirn, das zu einem immensen Vorstellungsvermögen fähig ist, die den Grundstein für die Fähigkeit zu Reisen legen [3].
Entdecker-Gen
Hierzulande wurde die Mutation des DRD4-Gens, nämlich die Variante DRD4-7R, in den populärwissenschaftlichen Quellen als „Entdecker-Gen“ bekannt. Um die Jahrtausendwende herum fand man heraus, dass dieses Gen offensichtlich mit der Migrationstätigkeit zusammenhängt und nomadische Völker es im Gegensatz zu sesshaften offenbar vermehrt aufweisen. Erklärt wird das hiermit, dass dieses Gen unter anderem den Dopaminhaushalt regelt. Dopamin ist ein wichtiger Faktor für Antrieb, Neugier und ein Hochgefühl [3].
Wie immer, wenn eine sensationelle wissenschaftliche Erkenntnis die Runde macht, gibt es aber zu viele Simplifizierungen. Eigenschaften – und schon gar keine so komplexen wie die Lust zu entdecken und zu reisen – lassen sich niemals auf ein einziges Gen reduzieren. So weisen die Forscherinnen und Forscher auch darauf hin, dass es niemals dieses DRD4-Gen alleine ist, welches unsere Reiselust determiniert.
Soziale Voraussetzungen
Unsere Persönlichkeit definiert sich immer aus einem Mix aus genetischen Voraussetzungen und Umweltfaktoren. Auch was das Reisen betrifft, werden wir auf eine gewisse Art und Weise sozialisiert. Reiseerfahrungen in unserer Kindheit prägen uns, auf durchaus unterschiedliche Weise. Entweder werden wir komplett angefixt oder erfahren, wie wir auf keinen Fall mehr urlauben wollen.
Auch eigene, spätere Erfahrungen spielen in die Umweltfaktoren mit hinein. Da wären zum Beispiel Jugendlager, eigene erste Reisen mit Freund:innen oder die erste Solo-Reise, die unser Reiseverhalten beeinflussen. Der Psychologe Dr. Jürgen Kagelmann meint, dass diese Erlebnisse – und dann vor allem die positiven Dinge, die wir daraus mitnehmen – unser Reisefieber erst so richtig anheizen [6]. Dass die Reisebiografie entscheidend für die Reisemotivation ist, hat auch eine Studie [7] herausgefunden. Je mehr die Eltern reisen, desto mehr auch die Nachkommen. Dass Reiseerfahrungen in der Kindheit prägen, habe ich in diesem Artikel auch umfassend beschrieben.
Und natürlich – das muss man bei aller Psychologie schon sagen – sind auch demografische Variablen wie das Einkommen ein wichtiger Prädiktor, was Urlaubsreisen angeht. „Ohne Geld ka Musi“, sagen wir in Österreich, oder anders gesagt: man kann sich noch so sehr eine Reise wünschen, aber wenn das Geld nicht da ist, dann bleibt man zuhause. Dieser Umstand zeigt sich in Studien immer wieder [8].
Innerpsychische Voraussetzungen/ Persönlichkeitsfaktoren
Aus den verschiedenen genetischen und sozialen Einflüssen entsteht unsere Persönlichkeit. Im Laufe unseres Erwachsenwerdens verfestigen sich diverse Eigenschaft mehr oder weniger stark. Ich möchte hier ein paar der wichtigsten Persönlichkeitsfaktoren aufzählen, die unserer Reiselust zugrunde liegen.
Neugier und Offenheit
Eine Eigenschaft, die viele Reisende eint, ist der Hang zur Neugier. Wie schmeckt wohl das Essen in Thailand? Wie sieht das Kolosseum von der Nähe aus? Wo sind die schönsten Strände der Karibik? Es sind Fragen wie diese, die uns antreiben. Wir wollen es wissen, wollen selbst erfahren und entdecken. Das fängt bei Mikroabenteuern vor der Haustür an (Was wohl in dem verfallenen Gebäude im Wald drin ist?) und hört – zumindest zurzeit – beim Flug zum Mars auf (Kann man dort leben?).
Die Neugier ist es auch, die uns durch die Kindheit bringt, die uns entscheidend „mitentwickelt“. Hätten wir keinen Antrieb, Unbekanntes zu erforschen, würden wir ewig in unseren Kinderzimmern sitzen und das Immergleiche machen. Sie ist sowohl Ergebnis als auch Voraussetzung unserer Gehirnentwicklung. Durch unsere lange Kindheit haben wir ausreichend Gelegenheit, unser Vorstellungsvermögen spielerisch zu trainieren. Das ist ja, wir ich oben schon geschrieben habe, eine wichtige Komponente von Reisetätigkeit [3].
Unter dem Persönlichkeitsmerkmal „Offenheit für neue Erfahrungen“ versteht man in der Psychologie einen Faktor der großen „Big Five“ – Persönlichkeitsfaktoren. Darunter summieren sich Eigenschaften wie neugierig, interessiert, erfinderisch, kreativ, künstlerisch, aufmerksam oder abwechslungsliebend.
Und daher hängt die Neugier, die Suche nach neuen Erfahrungen und die Offenheit dafür auch stark damit zusammen, ob, wie oft und wie man reist. So etwa geben neugierige Menschen mehr Geld für ihre Reisen aus und haben auch stärker das Gefühl, dass sie ihr Trip gebildet hat [8]. Offenheit hängt mit Neigung zu Abenteuerreisen zusammen. Es ist auch jenes Merkmal, dass Reisetypen am besten voneinander unterscheidet. So tendieren Personen mit viel Offenheit eher zu Sport- und Shoppingaktivitäten im Urlaub und weniger zu Familienreisen oder reinen Strandurlauben [9].
Sensation Seeking
Die Theorie des „Sensation Seeking“ nach Zuckerman [10] ist eine, die in der Psychologie vieles zu erklären versucht. Etwa, warum die einen Risikosport ausüben und die anderen nicht. Oder warum es Menschen gibt, die gefährliche oder stressige Jobs gern machen, während die anderen nicht mal im Traum daran denken.
Jemand, der eine hohe Ausprägung im Sensation Seeking aufweist, ist ständig auf der Suche nach intensiven Reizen. Neue und durchaus komplexe Erfahrungen werden als lustvoll erlebt und die Risikobereitschaft ist generell hoch. Daher setzen Menschen mit viel Sensation Seeking bewusst Handlungen, die ihnen die Lust und das Vergnügen verschafft, während jene mit niedriger Ausprägung nur fragen: „Sind die komplett wahnsinnig?“
Hohe Sensation Seeker sind schnell gelangweilt und daher immer auf der Suche nach neuen Reizen. Dabei scheuen sie weder körperliche, noch soziale, juristische oder finanzielle Risiken, um ihr optimales Erregungsniveau zu erreichen. In Bezug aufs Reisen müssen es aber nicht immer „extreme“ Verhaltensweisen sein. Oftmalige Reisen mit intensiven sensorischen Erlebnissen (z.B. landestypisch Essen) und vielen Aktivitäten würden zu einer Person mit hohem Sensation Seeking passen. Niedrige Sensation Seeker hingegen fahren seltener auf Reisen, bevorzugen eher immer dieselben Orte und bleiben eher im Umkreis ihres Hotels.
Awe und Flow: Hauptsache Wow!
Ziemlich viele W’s, oder? Lustig irgendwie, dass jene Konzepte, die ein ähnliches Gefühl beschreiben, auch ähnlich klingen. Ob nun Awe oder Flow, es geht ums Staunen, ums ein befriedigendes Gefühl, um so eine positive Überwältigung, dass man nichts anderes mehr will. Es geht ums „Wow“ – Feeling!
Der Mann mit dem unausprechlichen Namen ‚Csikszentmihalyi‘ hat das Konzept des Flows entwickelt und es zur Grundlage vieler gesundheits- und arbeitspsychologischer Theorien gemacht. Dabei beschreibt er ein Gefühl des vollkommenen Aufgehens in einer Tätigkeit, die wir selbstbestimmt und in einem richtigen Maß an Anforderung ausführen. Im Flow sind schon kleine Kinder, wenn sie vertieft spielen, oder aber Bergsteiger, wenn sie gerade einen Gipfel stürmen. Man vergisst die Zeit und geht voll in dem auf, was man gerade tut. Dadurch, dass das Erleben von Flow so einen starken Charakter der intrinsischen Motivation aufweist, tut man viel dafür, dieses Gefühl immer wieder zu erleben [11].
Das Awe dagegen ist ein temporäres, überbordendes Gefühl der Begeisterung. Es entsteht beim Anblick von spektakulären Rettungsmaßnahmen, ergreifender Kunst oder auch fantastischen Naturszenen [12]. Awe fungiert als „sozialer Kitt“, bringt Menschen also näher und baut Aggressionen ab [13]. Es ist außerdem dafür verantwortlich, dass wir oft sprachlos und weinend vor einer Szenerie stehen. Im Extremfall äußert sich ein Awe-Gefühl im Stendhal-Syndrom, also psychiatrischen Symptomen nach dem Betrachten außerordentlich schöner Kunstgegenstände aufgrund von Reizüberflutung [14].
Manche Menschen sind empfänglicher für das Awe als andere. In mehreren Studien hat man herausgefunden, dass die Neigung zu Offenheit für neue Erfahrungen (siehe oben) stark damit zusammenhängt, wie intensiv man Awe verspürt. Personen, die bereit sind, ihre eigenen Schemata über Bord zu werfen und kognitive Flexibilität aufweisen, haben auch mehr vom Awe – weil das Gefühl die Wirkung hat, eigene Denkweisen nachhaltig zu verändern [15].
Es ist das Staunen, das Fantastische, das Gefühl des Eins-sein mit der Welt, das wir beim Reisen suchen und zum Glück auch immer wieder finden. Wer es schon einmal erleben durfte, will mehr davon. Sowohl das Awe als auch der Flow hängen entscheidend mit unserem Belohnungssystem zusammen – empfinden wir diese Gefühle, ist das ein sehr befriedigender Zustand und wir erleben ihn gerne wieder. Wer also gut darin ist, den Flow für sich herzustellen und prädestiniert ist, Awe zu erleben, sucht auch auf Reisen und in Aktivitäten immer wieder danach.
„Die Geschichte des Reisens ist die Geschichte der gewollten und kontrollierten Entfremdung.“ [15]
Motive hinter dem Reisen
Flucht, Bildung, Aufbessern des Lebenslaufs, Neugierde stillen, Erholung, sozialer Status – für das Reisen selbst gibt es ebenso viele Motive und Gründe wie Reisedestinationen. Im Gegensatz zur Forschung zur Wirkung von Reisen gibt es in der Motivationsforschung zu Urlaubsreisen viele Ergebnisse. Einige will ich hier anführen (alle würden wohl ein Buch ergeben und den Rahmen sprengen). Vorweg möchte ich aber anführen: Reisemotive sind selten exklusiv. Das heißt, eine Person kann bei einer Reise mehrere Gründe dafür haben und nicht bloß einen.
Gängige Reisemotivationstheorien
In der psychogeografischen Forschung geht man davon aus, dass die Urlaubsreisemotivation ein Zusammenspiel aus aktueller Lebenssituation und Persönlichkeitsfaktoren – allen voran der Neigung zu explorativem Verhalten – ist [7]. So etwa fand Reeh in seiner Studie heraus, dass die Reisemotivation umso stärker ist, je unzufriedener die Leute mit ihrer Lebenssituation sind. Aber auch, dass sie umso eher Reisen, je stärker das Sensation Seeking ausgeprägt ist. Das heißt aber nicht, dass Menschen mit hoher Lebenszufriedenheit oder niedrigem Sensation Seeking nicht reisen, die Bedürfnisse dahinter unterscheiden sich aber ein wenig. So machen Personen mit hoher Lebenszufriedenheit und Sensationslust eher Entdeckungsurlaub, Personen, die nicht so zufrieden mit ihrem Leben sind und ungern den Kick suchen, Erholungsurlaub. Man kann also einmal von „Hin-zu“-Motiven (Suche nach Erfahrungen, emotionale Bereicherung) sprechen, einmal von „Weg-von“-Motiven sprechen (Flucht aus dem unbefriedigendem Alltag, psychische Entspannung).
Die Theorie der Differenzerfahrungen beschreibt eine Art Gegenalltag, den wir zu kreieren versuchen. Es geht um das Verlassen der gewohnten Alltagsstrukturen, um Freizeit als Ausgleich zur Arbeit – vorstellbar wie eine Waage, bei der man das Gleichgewicht zu halten versucht. Dabei wird der Alltag nicht automatisch als negativ empfunden, es ist nur der Wunsch nach etwas anderem da. Wird als Reisemotiv „Ausbruch“ genannt, so lässt sich dieses mit der Theorie der Differenzerfahrungen gut erklären. Auch das Ausfüllen von „leerer Zeit“ oder das Bewältigen von Sinnkrisen fällt darunter [16].
In der Theorie der psychischen Sättigung [17] kommen Begriffe vor wie etwas satt haben, auf der Stelle treten, Missmut und Ärgerlichkeit. Durch diese Zustände sind oft eine gestiegene Spannung in Kombination mit Emotionsausbrüchen und Leistungsverschlechterungen die Folge. Wir kennen den Zustand, wenn wir das Gefühl haben, dass das Fass übergeht. Es ist eben nicht durch Leere gekennzeichnet, sondern durch Anspannung aufgrund des immergleichen Alltags. Durch den hohen Erregungsgrad, den wir in der Psychologie auch Arousal nennen, ist bei psychischer Sättigung der Wunsch nach Tätigkeit groß. Daher ist das Urlaubsmotiv bei psychischer Sättigung nicht etwa Erholung zu Hause, sondern Abwechslung – also Reisen.
Vom Glück und Selbstzweck
Fragt man Personen, warum sie Reisen, wird häufig auch „die Suche nach Glück“ genannt. Auch ich würde das antworten und habe das auch in einem Artikel thematisiert. H. Jürgen Kagelmann führt allerdings an, dass diese Motivation als Forschungsgegenstand problematisch ist, da sie zu subjektiv ist. Glück als solches ist einfach nicht operationalisierbar [16]. Man darf es aber durchaus als ganz persönliches Reisemotiv so gelten lassen.
Aber auch Faktoren wie räumliche Wohnverhältnisse, das andere Erleben von Zeit sowie persönliches Selbsterleben spielen bei der Reisemotivation eine Rolle. Reeh [7] führt dazu drei Punkte an: romantische Natursehnsucht, industrielle Erholung und postindustrielle Identitätssuche. Am besten gefällt mir aber der eine Satz in Reehs Studie, der sagt:
Reisen ist Selbstzweck und eine Form der Selbsterhaltung.
Der Reiselust auf der Spur
Ob die Frage, warum Menschen reisen, nun vollständig beantwortet ist, wage ich zu bezweifeln. Ich hätte noch Stunden und Tage weiter recherchieren können, immer wieder tauchen Texte und Studien mit weiteren guten Erklärungsansätzen auf. Irgendwann muss die Dinge aber gut sein lassen, und ich denke, ich konnte in dem Artikel zumindest einen Überblick darüber geben, wo unsere Reiselust herkommt.
Wie immer in der Psychologie spielen hierbei evolutionäre, soziale und individuelle Faktoren zusammen. Deswegen bestimmen viele Voraussetzungen und Motive unser Tun, auch das Reisen. Auch wenn wir uns selbst am Ende des Tages sagen, dass wir einfach deshalb Reisen, weil es uns eben gefällt, dürfen wir uns sicher sein: da steckt mehr dahinter. Gut, dass sich einige schlaue Köpfe schon Gedanken darüber gemacht und Theorien dazu entwickelt haben. Und wer mag, darf sich nun fragen, was seine eigenen Erfahrungen und Motive bezüglich des Reisens sind. So kommen wir nicht nur der Frage nach der Reiselust der Menschheit, sondern auch unserer eigenen Reiselust auf die Spur.
Literaturnachweise
[1] http://www.reisegeschichte.de/doku.php?id=wiki:reisen&s[]=reisen
[2] https://www.fr.de/ratgeber/reise/frueher-heute-warum-menschen-reisen-11191115.html
[3] https://www.nationalgeographic.de/wissenschaft/gibt-es-ein-entdecker-gen
[4] https://www.zeit.de/news/2020-08/11/corona-und-das-fernweh
[5] Herrmann & Wetzel: Fernweh und Reiselust.
[6] https://ze.tt/ich-fuehle-mich-nur-auf-reisen-zu-hause-und-bin-damit-nicht-allein/
[8] http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.993.5747&rep=rep1&type=pdf
[9] https://hrcak.srce.hr/file/194846
[10] Zuckerman, M.: Sensation Seeking and risky behavior. American Psychological Association.
[11] https://nuovoeutile.it/wp-content/uploads/2015/12/2002-Flow.pdf
[12] Gehirn und Geist: Zum Klimaschutz bewegt. Heft Nr. 05/21
[13] https://www.researchgate.net/publication/326640022_Awe_More_than_a_feeling
[14] https://www.academia.edu/download/31421230/Emotion_in_Motion_Ch1.pdf
[15] http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.420.9925&rep=rep1&type=pdf
[16] Kagelmann & Kiefl: Tourismuspsychologie und -soziologie – Zur Aktualität einander ergänzender Perspektiven. In: Ökonomische und soziologische Tourismustrends.
Das ist Barbara, eine reisesüchtige Psychologin. Sie liebt Sonne, Italien, gutes Essen und Wein. Und denkt gern über sich selbst und andere nach. Meistens mag sie sich ganz gern und plant ständig irgendwelche Reisen.
Sehr spannend! Ich gehöre ja eindeutig zu den Sensation Seekern, auch wenn ich mit Risikosportarten etc. nicht viel am Hut habe. Aber die Suche nach immer neuen Reizen, die schnelle Langeweile etc – das kenne ich zu gut. Und wenn du meine Mutter – das absolute Gegenteil von mir – fragen würdest, würde sie sagen: Meine Solo-Reisen seien durchaus Risikounternehmungen, während ich das überhaupt nicht so wahrnehme.
Auch natürlich den impliziten Vorwurf „warum muss man denn ständig wegfahren? Daheim ists doch auch schön“ – und ich denke immer nur: Ja, eben: AUCH! Aber woanders ist es eben anders schön!
Auch das Awe-Gefühl kenne ich ZU gut! Dafür bin ich wirklich sehr empfänglich. Ebenso wie ich beim Reisen schnell in den Flow komme. Eigentlich könnte ich bei fast allen Punkten deines Artikels einen Haken dran machen – außer bei dem mit den Kindheitsreisen. Ich bin ja eben das totale Gegenteil meiner Eltern. Bei mir war der Drang nach Neuem statt dem Immergleichen offenbar stark angeboren.
Zu deinem historischen Ausführungen, die der Natur des Artikels geschuldet natürlich eher kurz und knapp sind, möchte ich dennoch noch etwas hinzufügen. Du beschränkst dich ja hier eher auf die privilegierten Schichten. Allerdings reisten durchaus auch und gerade die nicht-privilegierten Schichten: einfach, weil sie es mussten. Man könnte sie mit heutigen „Wanderarbeitern“ vergleichen. Schon in der Urzeit waren sie auf immer neuer Suche nach neuen Weidegründen. Oder die Siedlungen wurden irgendwann so groß durch das Bevölkerungswachstum, dass neue Siedlungen gegründet wurden. Es gab auch das Phänomen der sozialen Überbevölkerung – das heißt, dass es z.B. für jüngere Söhne kaum Möglichkeiten gab, sich eine eigene Existenz aufzubauen. Das waren genau diejenigen, die entweder auf Kreuzzüge gingen (als adlige Söhne) oder für Siedlungstätigkeiten angeworben wurden (etwa in Siebenbürgen oder Böhmen, aber später auch in Übersee – das waren dann die einfacheren Schichten).
In vielen Berufszweigen war die Reise ja auch vorgeschrieben – etwa bei der Walz der Handwerker – oder bedingte sich durch die Tätigkeiten: Bauleute, Künstler, Händler, Krämer, Spielleute etc. Oder eben auch Hilfsarbeiter und Tagelöhner gingen dorthin, wo gerade Arbeit war.
Das Reisen als Selbstzweck ist eine sehr romantische Idee – auch historisch. Aber natürlich hatten Reisen auch vorher schon eine Funktion als „Ausbruch aus dem Alltag“. In der Wallfahrtsforschung weiß man das schon lange, dass Wallfahrten schon früher durchaus nicht nur aus religiösen Gründen unternommen wurden, sondern dass sie Zwecke erfüllten, die heute eine Urlaubsreise erfüllt. Hersche nennt Wallfahrten „Die Lustreise der kleinen Leute“ und bezeichnen Wallfahrtsorte als „Fremdenverkehrsorte der Frühneuzeit“.
Den Drang nach Abwechslung und Neuem kann man also auch „im Kleinen“, ohne viel Geld, befriedigen. Und so wie sich manche mit wenig Geld lieber mit dem Zelt auf einen nahegelegenen Campingplatz begeben oder mit dem Flixbus irgendwohin fahren, bauen sich manche von viel Geld lieber ein großes Haus als wegzufahren…
Danke für deinen ausführlichen Kommentar und deine Ergänzungen!
Ja, absolut. Mir sind auch die Kreuzzüge in den Sinn gekommen beim Schreiben. Aber wie gesagt: es hätte ein Buch daraus werden können 🙂 Die Reisetätigkeiten der Menschheit sind unglaublich facettenreich und alt – da gäbe es Material ohne Ende. Von daher danke dafür, dass du diesen Aspekt hier auch eingebracht hast.
LG Barbara
PS: Und auch beides geht. Großes Haus und Reisen 😉
Klar, wenn man das Geld für beides hat, kann man auch beides machen.
Es ging mir hier nur darum: Viel Geld haben hängt nicht unbedingt zusammen mit wegfahren und was Neues sehen.
Das kann davon völlig unabhängig sein – zumindest in dem Rahmen, in dem wir in Mitteleuropa denken. Global gesehen ist „wenig Geld haben“ ja doch noch mal ne andere Sache.
Liebe Barbara, ein ganz spannendes Thema, das du auch sehr ausführlich behandelt hast. Und mit vielen neuen Ansätzen, auf die ich bisher so noch nicht gekommen bin. Ich frage mich schon seit Jahrzehnten, woher meine enorme, kaum zu bändigende Reiselust kommt. Genetisch kann sie nicht bedingt sein, ich komme aus einer Familie, die das Reisen eigentlich nie leiden konnte. Und bis heute fragt sich meine nun mehr ausschließlich im bayerischen Dorf sitzende Mutter, von wem ich „DAS“ denn hätte. Als wäre Reiselust eine schlimme Krankheit. Liebe Grüße!
Hallo Gabriele! Das ist oft wirklich spannend, dass man ein reiselustiges Unikum in der Familie ist. Vielleicht ist aber doch ein bisschen Genetik dabei, nur viel weiter zurückliegend 😉 . Es ist aber wie bei allen Eigenschaften: Kinder haben oft ein gänzlich anderes Temperament als ihre Eltern, was oft auf Unverständnis stößt. Deines lässt dich eben gerne reisen. Schade, dass deine Mutter das als seltsam ansieht. LG Barbara
Descartes möge mir verzeihen:
Ich reise, also bin ich!
Damit ist soooo viel gesagt <3